Artikel "Guitarre" in: Musikalisches Lexikon, welches die theoretische und praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten und neuen Instrumente beschrieben, enthält, hg. v. Heinrich Christoph Koch, Offenbach a. M. [1802].
Guitarre. Ein Saiteninstrument, welches in Ansehung der Behandlung unter die Gattungen der Laute oder Zither gehört, sich aber in Rücksicht auf das Corpus sowohl von der Laute, als auch von der gemeinen Zither sehr merklich auszeichnet. Das Corpus der Guitarre gleicht dem der Bogeninstrumente, hat aber eine flache Resonanzdecke und keine F-Löcher, sondern in der Mitte ein rundes Schalloch. Der Boden ist ebenfalls flach, und die Zarge nach dem Verhältnisse der Größe der Decke und des Bodens höher, als bey den Geigenarten. Die Größe des Corpus hält ohngefähr das Mittel zwischen einer Violine und einem Violoncell. Der Hals der Guitarre ist breit, und auf dem Griffbrette sind die Tongriffe mit sogenannten Bunden bezeichnet, die aber von Elfenbein in das Griffbret eingelegt sind. Oben an dem Halse befindet sich anstatt des Wirbelkastens ein flaches rückwärts gerichtetes Bretchen, in welchem die Wirbel laufen. Der Steg, welcher breit und stark, aber sehr niedrig ist, wird auf der Resonanzdecke angeleimt. Das Instrument ist mit sechs Saiten bezogen; die vier höhern sind gewöhnliche Darmsaiten, zu den beyden tiefern bedient man sich aber übersponnener Saiten, die aus Schlußseide verfertigt werden. Die Stimmung dieser Saiten ist: G A d g h e;* sie werden, indem die linke Hand die Töne greift, mit den Fingern der rechten Hand, so wie bey der Laute, gerissen, und das Instrument wird an einem Bande hängend, welches über die Schultern gezogen wird, unter dem rechten Arme gehalten.
Die Guitarre ist besonders zur harmonischen Begleitung des einstimmigen Gesanges geeignet, und wird am gewöhnlichsten und häufigsten in Spanien gebraucht. Bey uns hat sie sich seit einiger Zeit zum Lieblingsinstrumente der Damen zu erheben gewußt.
Dieses Instrument ist von einem deutschen Künstler zu London mit einer Art von Claviatur versehen worden, wodurch es in Ansehung seiner Behandlung für die linke Hand Guitarre bleibt, für die rechte aber sich in ein Pianoforte verwandelt, daher man ihm auch den Namen Pianoforteguitarre gegeben hat. [...] Durch diese Einrichtung erlangt das Instrument den Vortheil eines festern und bestimmtern Tones, mehr Vollstimmigkeit, und, in Rücksicht auf die rechte Hand, ein leichteres Traktement.
*) Einige beziehen das Instrument auch nur mit fünf Saiten, die sie in die Töne a d g h d stimmen.
Heinrich Christoph Kochs Musiklexikon von 1802 zählt zu den etablierten musikwissenschaftlichen Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts. Als Geiger, Komponist und Musiktheoretiker schuf Koch mit seiner Enzyklopädie ein umfangreiches und damals modernes Kompendium des Wissens rund um das Thema Musik. Dass er 1802 bereits einen Artikel über die Gitarre ins Lexikon aufnahm, unterstreicht seinen Anspruch, neben alten auch neue "Kunstwörter" zu erklären, denn die (sechssaitige) Gitarre war erst seit einigen Jahren, vielleicht einem Jahrzehnt, im deutschsprachigen Raum bekannt (eine genauere Datierung ist schwierig; die hierzu gern herangezogene Schilderung vom Geigenbauer Jakob August Otto, der 1828 rückblickend die Einführung der Gitarre in Deutschland auf das konkrete Jahr 1788 datierte und sich selbst als Erfinder der sechsten Saite präsentierte, ist so sicherlich nicht haltbar).
Bezeichnend für die Beurteilung der Gitarre um 1800 ist, dass ihr kaum mehr zugetraut wurde als die akkordische Liedbegleitung. In diesem Zusammenhang auch typisch ist die Charakterisierung der Gitarre als Instrument "der Damen". Offenbar fehlte es der Gitarre noch am "festern und bestimmtern" Tone und an mehr "Vollstimmigkeit" - die Entwicklung des Instruments von der fünfchörigen Barockgitarre hin zur sechsaitigen Gitarre mit differentierterem Ton und lauterem Klang (u. a. dank neuartiger Resonanzleisten und besseren Saitenmaterials) und mehr Stimmstabilität (durch Verbesserungen der Mechaniken) war in vollem Gange. Ausgestattet mit diesen moderneren Instrumenten konnten in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten dann Gitarrenvirtuosen à la Aguado, Carcassi, Carulli, Giuliani, Molino, Sor ... die Möglichkeiten einer 'gehobenen' Spielart entwickeln und demonstrieren.