"Guitarre-Schule" - Gitarrenlehre von 1802

Guitarre-Schule 1802: I. Von der Haltung der Gitarre

I. Kapitel. Von der Haltung der Gitarre.

§ 1. So wie jedes Instrument einen gewissen Anstand beim Spielen erfordert, eben so verlangt die Gitarre eine besondere Sorgfalt bei Haltung derselben. Jeder, der dieses Instrument erlernen will, kann es sich durch eine richtige Haltung sehr erleichtern; aber durch Vernachlässigung derselben verwöhnt er seine Hand und Finger so, dass sie ganz unbrauchbar werden, vollstimmige Akkorde zu nehmen [zu greifen].

Gitarrenspielerin, Haltung der Gitarre ca. 1830
Gitarrenspielerin um 1830, Haltung der Gitarre. Linker Fuß auf einer Fußbank, Gitarre auf rechten Oberschenkel gestützt (wozu dann die Fußbank?). Abb. aus einer französischen Gitarrenlehre um 1830.

§ 2. a) Linke Hand. [Greifhand] Die erste Regel ist: Man stütze die Gitarre auf die rechte Lende[1] und halte sie mehr stehend als liegend, weil durch das Liegen derselben der Arm nicht genug Freiheit behält, die Hand ermüdet, und daher die Finger gehindert werden. Ferner halte man sie mehr dem Körper zu als ab, weil sonst ein unsicheres Spiel zu befürchten ist. Man lege den Hals in die linke Hand, jedoch so, dass ihn die Hand ungezwungen halten und die auf dem Griffbrette befindlichen Töne bequem spielen kann, und dass eine Hohlung zwischen der Hand und dem Griffbrette bleibe.

§ 3. Die Finger halte man mehr herunter- als heraufwärts, denn da die Plätze der Töne auf dem Griffbrette etwas weit voneinander entfernt sind, so würde durch die Spannung der Hand und Finger ein gezwungenes Spiel unvermeidlich sein.

§ 4. Da der Daumen zur Festhaltung der Gitarre bestimmt ist, so ist zu merken, dass man ihn nicht zu weit über das Griffbrett hervorragen lasse, denn die übrigen Finger verlieren dadurch ihren Spielraum und werden in der Abwechslung der Töne gehemmt.

§ 5. Nun lege man den zweiten oder Spitzfinger [Zeigefinger] auf die erste Stufe oder Bund des Griffbretts, den 3ten [Mittelfinger] auf die 2te, den 4ten [Ringfinger] auf die 3te und den 5ten oder kleinen auf die 4te Stufe. In dieser Lage lasse man die Finger bestimmt auf ihren Plätzen wechseln und rücke im Spielen weder zu weit herauf noch herunter, so dass sie [die Finger] den Ton auf der Mitte der Stufe festhalten. Es wird dadurch ein reiner scharfer Ton befördert und alles Schnarren und Dissonierende der Saite verhindert.

§ 6. b) Rechte Hand. [Anschlagshand] Anmerkung: Die Einteilung der Finger der rechten Hand in Rücksicht der anzuschlagenden Saiten sind genauer bestimmt im V. Kap. § 8 und 9. Doch wird es nicht überflüssig sein, auch hier schon etwas zu erwähnen.

Die rechte Hand, die zum Anschlagen der Saiten bestimmt ist, halte man unweit des Schallloches und setze den kleinen Finger fest auf die Gitarre, welcher daselbst seinen bestimmten Platz für immer behält. Bei Abweichung von dieser Regel ist nicht allein ein ungewisses Anschlagen, sondern wohl auch gar eine Verwechslung der Saiten zu befürchten. Auch würde man selbst eine Ungleichheit im Tone bemerken, wovon im IV. Kap. § 2 mehr gesagt wird.

§ 7. Der Arm muss auf dem Körper der Gitarre ruhen, jedoch ohne die Saiten zu berühren, weil sonst die Saiten gedämpft und die Töne unangenehm würden.

§ 8. Es ist nicht zu leugnen, dass die mannigfaltigen Abwechslungen beim Anschlagen der Saiten einige Schwierigkeiten verursachen, allein man hüte sich nur vor Verwechslungen der Saiten, welches oft anfangs bei den Grundnoten stattfindet. Der Daumen ist zum Anschlagen der ersten 3 tiefen Saiten, nämlich E, A, D [und manchmal] auch G bestimmt. Der 2te, 3te und 4te Finger schlagen abwechselnd ihre bestimmten Saiten an. Es gehört in der Regel die 4te tiefe Saite G dem 2ten [Zeigefinger], die 5te H[-Saite] dem 3ten, die 6te E dem 4ten Finger zu. Doch gibt es Ausnahmen wegen der häufigen Abwechslungen, wie im V. Kap. § 7-11 deutlicher bestimmt wird.

§ 9. Die Regel von der Haltung der Gitarre darf nicht im strengsten Sinne genommen werden, weil man auf den verschiedenen Bau der Hand und Finger Rücksicht nehmen muss. Wer z. B. eine kleine Hand hat, muss mehr auf Bequemlichkeit beim Spielen sehen. Hingegen wird eine Hand von gehöriger Größe und Länge der Finger viele Schwierigkeiten weit leichter überwinden, obschon dieses Instrument in der Abstufung der Töne und der Breite des Griffbretts manches Unbequeme hat. Indessen empfiehlt man ein ungezwungenes Spiel mit Anstand verbunden, jedoch ohne diese Regeln zu vernachlässigen.


Gitarre spielender Engel (Bortolazzi)1 "Lende" hier vermutlich im Sinn von Oberschenkel (immerhin werden oder wurden die Begriffe im Plattdeutschen synonym verwendet) oder aber im Bereich des Hüftknochens. Die damals noch relativ kleine Gitarre wurde vermutlich nicht, wie heute bei der Konzertgitarre üblich, in Höhe der Einbuchtung des Resonanzkörpers auf den Oberschenkel gelegt, sondern mit der unteren Kante auf Oberschenkel oder Hüfte gestellt - siehe beigefügte Abbildung. Sie stammt aus der "Guitarre-Schule" von Bartolomeo Bortolazzi (Wien 1837; Erstausgabe war 1805). In seinem Abschnitt "Die Art die Guitarre zu halten" verweist Bortolazzi auf diese Zeichnung.