Ausführlicher Artikel "Guitarre" im Mendel/Reissmann-Musiklexikon (1874) - 2. Teil

[Anwendung der Gitarre - Solo- oder Begleitinstrument]

Wenden wir uns nun zur Beleuchtung der Anwendung der Guitarre im Kunstleben, so kann es derselben Niemand bestreiten, dass sie sich besonders zur einfachsten Begleitung von Gesangstücken eignet, sobald dieselben nur akkordisches Accompagnement fordern und eine Oktave über dem Tonreich der Guitarre erklingen, also zur Begleitung von Sopranpartien, weniger zu Tenor- und noch weniger zu Bassgesängenbegleitung. In gleicher Weise steht auch der Wert der Guitarre im Ensemble.

Als Soloinstrument, wie man es in seiner Blütezeit einzuführen versuchte, hat es sich nicht bewährt, trotzdem Virtuosen sich bemühten, eigens dafür gesetzte Tonstücke, wie Fantasien, Sonaten, Variationen etc., selbst mit Trillern, Doppeltrillern und Flageolettönen versehen, auf durchaus vollendete Weise darauf vorzuführen. Der Ton des Instruments, die eigentliche Seele desselben, ist kalt und dürftig und muss in einer Zeit, wo man sich immer mehr dem gefühlten Ton zuwendet, an Verehrern verlieren. Deshalb ist es nicht ungerecht zu behaupten, dass seine Vorzüge es ihm nicht erlauben, in der Kunst eine bedeutende Stelle einzunehmen, wofür jedoch seine vielfache Anwendung bei niedern Kunst- und Dilettantenleistungen, wo es fast unentbehrlich gewesen, reichlich entschädigt.

[Gitarre spielen lernen - Gitarrenschulen]

Gitarrenlehre von Bornhardt (1830)
Titel der "Guitarre-Schule" von Bornhardt
Das bedeutende Tonreich der Guitarre, welches von E bis h2 reicht, kann Jeder leicht zu beherrschen sich aneignen, und die Stimmung der Grundsaiten derselben gestattet in C-, G-, D-, A-, E- und F-Dur sowie in A-, E-, Fis-, Cis- und D-moll stehende Tonstücke bald ausführlich zu lernen. Tonstücke jedoch mit mehr Versetzungszeichen darzustellen ist schwieriger - und gebraucht man hierzu den Capo tasto. Bei größerer Beherrschung des Instruments lässt sich oft, ohne der Natur desselben Gewalt anzutun, mehr auf demselben herstellen, als man glauben sollte. Um dies jedoch zu vermögen, ist eine schulgerechte Behandlungsweise der Guitarre durchaus zu empfehlen, die in jeder Guitarren-Schule nachgewiesen wird. Die bekanntesten der letzteren sind: die von Bortolazzi, Bevilaqua, Bornhardt, Carulli, Doisy, Fiedler, Giuliani, Harder, Lehmann, Molino, Pacini, Scheidler, Sor, Spina, Stählin, Wohlfart u. A. Ein vollständigeres Verzeichnis bietet Whistling in seinem "Handbuch der musikalischen Literatur", S. 420.

[Kompositionen für Gitarre - Tabulaturen]

Auch der Kompositionen für Guitarre sind nicht wenige, doch sind auch diese meist älteren Datums. Zwar sind die Guitarren-Schulen auch meist alle einer früheren Zeit entsprossen, doch sind sie um deswillen noch heute die besten, weil man in neuester Zeit nicht mehr Versuche macht, höchste Kunstleistungen auf dem Instrumente zu erstreben, und auch sonst die Guitarre nur noch in der einfachsten Weise gepflegt wird - und zwar vorzüglich in deren Urheimat: Spanien.

Um dazu befähigt zu werden, genügt eine einfache Tabulatur der Guitarre, die man denn von dort her auch in Massen beziehen kann, während solche in Deutschland seltener hergestellt werden. [C. Billert in: Mendel/Reissmann Lexikon 1874, 452f]


Artikel "Guitarre" in [Mendel/Reissmann Lexikon 1874]:

1. Teil: Geschichte der Gitarre - instrumentenhistorische Entwicklung, Verbreitung der Gitarre - Einführung in Deutschland, Form und Aufbau der Gitarre, Stimmung der Gitarre - Saitenmaterial, Haltung und Spiel der Gitarre - Guitarren-Schulen

2. Teil: Anwendung der Gitarre - Solo- oder Begleitinstrument, Gitarre spielen lernen - Gitarrenschulen, Kompositionen für Gitarre - Tabulaturen

3. Teil: Außereuropäische Gitarrenarten, Verbesserungen und Abarten der Gitarre - europäische Instrumentenbauer

Ergänzung: Gitarre um 1880, Metallsaiten, Wiederbelebung durch Leipziger Gitarrenclub