Artikel "Guitarre" aus Enzyklopädie von 1840

"Guitarre" aus: Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften: oder Universal-Lexicon der Tonkunst, Neue Ausgabe, Band 3, herausgegeben von Gustav Schilling, Verlag von Franz Heinrich Köhler, Stuttgart 1840, S. 398ff.

Guitarre, Kithara, Chitarra (ital.) hat ihren Ursprung nicht sowohl der Laute, als der alten Zither zu verdanken. Sie kam aus dem Morgenlande zuerst nach Spanien, wo sie sich außerordentlich beliebt machte, und von wo sie nach Italien und Frankreich, und endlich nach Deutschland überging. In der Regel ist das Instrument von der Laute der Bauart nach hauptsächlich dadurch verschieden, daß es nicht gewölbt, sondern mit flachem Boden und flacher Decke versehen ist, welche letzte ein rundes Schallloch hat. Die beiden Seiten der Decke und des Bodens, so wie der Zargen, sind durch einen Einbug geschweift, fast wie bei der Violine. Der breite Hals ist mit Tonbunden versehen, die aus festgeleimten Elfenbein-, auch Metallstäbchen bestehen, welche quer über das Griffbrett laufen. Die Saiten werden nicht von einem Stege, wie bei der Violine, sondern allein von einem breitern und höhern Bunde am oberen Ende des Halses getragen. Unten sind sie an einem Sattel und oben im Wirbelkasten an den Wirbeln befestigt, durch deren Umdrehen sie gestimmt werden. Diese Wirbel werden bald von hinten, bald und meist von den Seiten, wie bei der Violine, angebracht. Man hat überhaupt in der Bauart mancherlei Verbesserungen versucht, auch an den Wirbeln, um das Zurückgehen der Saiten zu verhüten und festere und genauere Stimmung zu bewirken. Besonders hat sich darin Hr. Thielemann in Berlin seit 1806 ausgezeichnet, über dessen neugeformte und verbesserte Guitarre man Näheres im 16ten Jahrgange S. 756[1] und im 18ten Jahrgange S. 717[2] der Leipz. allgem. musik. Zeitung liest. Im 11ten Jahrgange S. 481 derselben Zeitung wurde von Hrn. Arzberger ein bemerkenswerther Vorschlag zu einer wesentlichen Verbesserung im Baue dieses Instrumentes niedergelegt.[3] […]

Nach Deutschland wurde die Guitarre zuerst 1788 aus Italien von der Herzogin Amalia von Weimar gebracht. Sie hatte, wie das auch in Spanien der Fall ist, nur 5 Saiten. Der Instrumentenmacher Jac. Aug. Otto in Jena war der Erste, welcher für Deutschland solche Instrumente bauete, und zwar 10 Jahre lang allein. Er war es auch, welcher nach seinem eigenen Zeugnis in seinem Buche "Ueber den Bau der Bogeninstrumente etc."[4] auf des K. Sächsichen Capellmeisters Naumann Veranlassung zuerst die 6te Saite hinzufügte, die ihr seitdem nicht fehlt. Die 3 höchsten sind Darmsaiten, die 3 tiefsten gewöhnlich aus Seide verfertigt und mit Silberdrath [sic] übersponnen, wobei zu bemerken ist, daß jede tiefere Saite nothwendig mit stärkerem, nicht mit gleichstarkem Drathe überzogen werden muß. Ihre Stimmung enthält 4 Quarten und eine große Terz in folgender Ordnung: E, A, d, g, h, e'. Die Noten dazu werden im Violinschlüssel um eine Octave höher geschrieben. Bei Tonsätzen in F oder B stimmt man auch die tiefste Saite in F, um den Daumen der linken Hand zum Greifen dieses Tones nicht nöthig zu haben. Einige stimmen auch das tiefe E sogar in G und As um, was aber dem Instrumente schädlich ist, weil die Wirbel durch das öftere Drehen und die große Spannung der Saite locker werden.

Beim Spielen hält man den Hals der Guitarre zwischen dem Daumen und Zeigefinger der linken Hand, so daß die Finger sich bequem auf dem Griffbrette bewegen können. Den unteren Theil derselben stützt man auf das rechte Knie, so daß der Resonanzboden abwärts gekehrt ist. Der kleine Finger der rechten Hand wird auf der Oberdecke unweit des Schallloches festgesetzt, und mit den übrigen Fingern werden die Saiten gerissen. Beide Hände haben ihre eigene Applicatur[5], die in jeder Guitarren-Schule gelehrt wird.

Wenn man nicht alles Mögliche auf dem Instrumente hervorbringen und die Natur desselben nicht verkehren will, hat die Erlernung desselben, besonders für Clavierspieler, eben keine große Schwierigkeit. Es ist daher etwa 30 Jahre lang in Deutschland, am längsten aber in Spanien, Lieblingsinstrument der Herren und Damen gewesen, daher auch öfter sehr ausgeschmückt worden. Die gefällige Form, das Tragbare der Guitarre und der im Ganzen sehr wohlfeile Preis (gewöhnlich zu 1 bis 2, sehr gute jedoch auch zu 5 Louisd'or) haben es nicht allein so stark verbreitet, sondern es ist als Begleitungs-Instrument zum Gesange und zu leichten Ständchen auch in der That sehr angenehm, so daß es die Zurücksetzung, die einige darüber ausgesprochen haben, keineswegs verdient. Für leichte Dilettanten-Unterhaltung, namentlich im Freien, ist die Guitarre sehr zweckdienlich und ergötzlich. Man hat daher in den Zeiten ihres höchsten Flores, denn die Liebhaberei hat in Deutschland jetzt am meisten nachgelassen, zum Besten der Damen für allerlei Erleichterung gesorgt. So hatte z. B. ein Deutscher in London auf der Decke des Instruments 6 Claves angebracht, deren Tangenten aus dem länglichen Schallloche an die Saiten schlugen, um der rechten Hand das Reißen derselben mit den Fingern zu ersparen. Man nannte diese Art Tasten- oder Pianoforte-Guitarre. Sie hat sich aber nicht sehr verbreitet und nicht erhalten.

Auch der sog. Capotasto (deutsch gewöhnlich: Capotaster, franz. Barre), in beiderlei Bedeutung, gehört hieher, denn einmal versteht man darunter das Anschlagen einer oder mehrerer Saiten der Guitarre mit dem Zeigefinger der linken Hand, wenn schwere Passagen sich mit den Fingern der rechten Hand nicht allein ausführen lassen, und dann auch den deutsch eigentlich richtiger: Guitarrenaufsatz genannten, Steg (Querbalken), welchen man oben am Halse vermittelst eines Bandes oder Riemens, der um den Hals geschlungen wird, befestigt, um dem Instrumente schnell eine gleichmäßige höhere Stimmung zu geben, was Beides zur Erleichterung des Spieles dient, dort, wie angeführt, hier, um mit gleichem Fingersatze aus einer anderen, bei der gewöhnlichen Stimmung der Saiten sehr schwierigen Tonart spielen zu können. Der Aufsatz wird natürlich immer dicht vor einer Rippe oder einem sog. Bunde (s. d.) niedergebunden, z. B. auf der Stelle, wo die e-Saite den Ton g giebt: in dem Falle spielt man mit demselben Fingersatze, mit welchem man bei offenen Saiten aus F-Dur spielen würde, aus As-Dur etc. Der Aufsatz (Steg) selbst besteht gewöhnlich aus einem, mit weichem Leder an der Aufsatzkante beklebten, Stückchen schwarzen Eben- oder andern gebeizten harten Holzes, und ist an beiden Enden mit einem Loch oder sonst einer Vorrichtung versehen, daß er sich mittelst des um den Hals liegenden Bandes leicht befestigen lässt. -

Bei hinlänglicher Kenntnis der Harmonie ist die Guitarre selbst zu Fantasien recht gut zu gebrauchen. Nach gehöriger Uebung läßt sich Mehr darauf hervorbringen, ohne der Natur des Instrumentes Gewalt anzuthun, als Viele glauben. Freilich wird man sich nicht bis zu Trillern oder vollends zu Doppeltrillern versteigen dürfen, die sich nie gut ausnehmen, es wären denn ganz außerordentliche Meister, deren die Guitarre auch jedoch nicht zu wenige aufzuweisen hat. So ließ sich z. B. 1806 der gewesene Hoflautenist des Churfürsten [sic] von Mainz, Hr. Scheidler, in Frankfurt a. M. auf einer Guitarre mit 7 Saiten mit solcher Auszeichnung hören, daß er allgemein für den größten Guitarrenmeister Deutschlands gehalten wurde. 1808 gab Hr.Giuliani am 3ten April in Wien ein von ihm selbst componirtes und mit Begleitung des ganzen Orchesters vorgetragenes Conzert auf der Guitarre, das seiner Seltenheit wegen und weil es lieblich zu hören war, außerordentlich gefiel.[6] Auch der berühmte N. Paganini ist ein so großer Meister auf der Guitarre, daß Lipinski selbst kaum zu entscheiden wußte, ob er größer auf der Violine oder auf diesem, in späterer Zeit von P. zurückgesetzten, Instrumente sey. Bewundernswerth ist es, was Hr. Sor, namentlich im Harmonischen darauf zu machen weiß; er gehört unter die größten Meister. -

An Lehrbüchern für die Guitarre ist mehr Ueberfluß als Mangel. Die bekanntesten sind von Bortolazzi[7], Bevilaqua[8], Bornhardt[9], Carulli[10], Doisy[11], Fiedler[12], Giuliani[13], Harder[14], Lehmann[15], Molino[16], Pacini[17], Scheidler[18], Sor[19], Spina[20], Stählin[21], Wohlfahrt[22] u. A. Ein langes Verzeichnis s. in Whistling's Handb. d. musik. Literat. S. 420. -

Die Menge der Compositionen ist bedeutend und vermehrt sich noch jährlich, denn im Auslande ist die Guitarre viel beliebter als jetzt bei uns.


1 An der angegebenen Stelle in Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ, November 1814, Rubrik "Nachrichten") findet sich lediglich ein kurzer Hinweis auf fünf Gitarren von Thielemann "mit verbesserter Mensur, von Sandelholz gearbeitet". Johann Gottlob Thielemann war ein berühmter Berliner Lauten- und Gitarrenbauer.

2 Kurzer Hinweis in der AmZ (Rubrik "Nachrichten", Oktober 1816) auf eine Gitarre von Thielemann "in neuer Form, und eine verbesserte Lyraguitarre, beyde von Mahagoniholz".

3 Arzberger: Vorschlag zu einer wesentlichen Verbesserung im Bau der Guitarre, in: AmZ, Mai 1809, Sp. 481-488.

4 Jakob August Otto: Ueber den Bau der Bogeninstrumente, und über die Arbeiten der vorzüglichsten Instrumentenmacher, zur Belehrung für Musiker. Nebst Andeutungen zur Erhaltung der Violine in gutem Zustande, Jena 1828. J. A. Otto war Instrumentenbauer am Großherzoglich Weimarischen Hof. Sein Buch enthält einen Anhang "Ueber die Guitarre".

5 "Applicatur (abgeleitet von applicatura, schlecht lateinisch für applicatio, zu deutsch: Anfaltung, Anknüpfung, Verknüpfung) ist zunächst die Bezeichnung für Fingersetzung und zweckentsprechende Anwendung der Finger überhaupt, durch welche bei dem Spiele musikalischer Instrumente die Tonerzeugung in einer für den Spieler möglichst bequemen Weise geschehen soll." Musikalisches Conversations-Lexikon, Band 1, hg. v. Hermann Mendel, Berlin 1870, S. 261.

6 Am 3.4.1808 wurde Giulianis Concerto A-Dur (Konzert für Gitarre und Orchester Nr. 1 A-Dur, op. 30) in Wien uraufgeführt.

7 Bartolomeo Bortolazzi: Neue theoretische und practische Guitarre-Schule, oder: gründlicher und vollständiger Unterricht, die Guitarre nach einer leichten und faßlichen Methode gut und richtig spielen zu lernen. Nuova ed esatta Scuola per la Chitarra ridotta ad un metodo il più semplice, ed il più chiaro, siebente verbeserte und vermehrte Ausgabe, Verlag Tobias Haslinger, Wien o. J. [1837]. Die erste Ausgabe erschien 1805 im Verlag Chemische Druckerey, Wien.

8 Mathieú Bevilacqua: Principes et methode nouvelle pour pincer la guitare, Verlag Tranquillo Mollo, o. O. [1808].

9 Johann Heinrich Carl Bornhardt: Anweisung die Guitarre zu spielen und zu stimmen nebst ausgewählten Liedern und Uebungsstücken, neue stark vermehrte Ausgabe, Verlag Holle, Wolfenbüttel [ca. 1830]. Erste Ausgabe von Bornhardts Gitarrenlehre 1802, sie dürfte daher eine der frühesten deutschsprachigen Schulen für (sechssaitige) Gitarre sein.

10 Ferdinando Carulli: Méthode complette de Guitarre ou Lyre, op. 27, Paris [1810]. In überarbeiteter Form ca. 1825 erschienen als Méthode complète pour parvenir à pincer la Guitare par les Moyens les plus simples et les plus faciles, op. 241 - in deutscher Übersetzung ca. 1830 erschienen als: Vollständige Anweisung um auf die leichteste und einfachste Weise die Guitarre spielen zu lernen nebst einer Anzahl nach den Fortschritten geordneter Uebungsstücken und sechs Studien.

11 Charles Doisy: Vollständige Anweisung für die Guitarre, sowohl für Anfänger als solche welche schon einige Fortschritte auf diesem Instrumente gemacht haben, Breitkopf u. Härtel, Leipzig o. J. [um 1802]. In seiner Gitarrenlehre behandelt Doisy die damals verbreitete fünfsaitige Gitarre (Stimmung: A d g h e).

12 Fiedler: Kurze Anweisung die Guitarre zu spielen, mit 18 Handstücken, Hamburg o. J.

13 Mauro Giuliani: Studio per la Chitarra, Wien [1812].

14 August Harder: Neue theoretische und praktische Guitarrenschule, Berlin o. J.

15 Johann Traugott Lehmann: Neue Guitarre-Schule oder die einfachsten Regeln die Guitarre auch ohne Lehrer spielen zu lernen, zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig [ca. 1830]. Erstauflage Dresden [1806].

16 Francesco (François) Molino: Nouvelle Méthode pour la Guitare. Neue Guitarren-Schule, Leipzig o. J.

17 N. Pacini: Méthode générale au de Guitarre, composée par les meilleurs auteurs de Paris [...], Paris o. J.

18 J. F. Scheidler: Nouvelle Méthode en français et en allemand pour apprendre la Guitarre ou la Lyre, Bonn [1804].

19 Ferdinand [sic] Sor: Méthode pour la Guitare, Paris 1830.

20 Spina: Primi Elementi per la Chitarra, con testo italiano e tedesco, Wien o. J.

21 Johann Jakob Staehlin: Kurzgefasste Anleitung zum Guitarrespiel nebst einigen Uebungsstücken für die Guitarre allein, Offenbach [ca. 1820]. Erstausgabe vermutlich 1810.

22 Heinrich Wohlfahrt: Neueste Guitarren-Schule, oder gründliche Anweisung zum Selbstunterrichte im Guitarrespielen. Nebst 146 Uebungsstücken und einem Anhange von Gesängen, Meißen o. J.